Gewaltfreie Kommunikation (GFK) in der pädagogischen Praxis
An dieser Stelle berichtet unsere ehemalige Mitarbeiterin Rebecca Giersch, früher Lehrerin und Fachleiterin sowie ausgebildete Begleiterin von Schulentwicklungsprozessen, über Gewaltfreie Kommunikation (GFK) in der pädagogischen Praxis.
Gerade im Schulalltag stehen Pädagog:innen immer wieder vor herausfordernden Situationen, in denen sie spontan und professionell in Lerngruppen auf Konflikte und Störungen reagieren müssen. Dabei kann die Gewaltfreie Kommunikation nach M. Rosenberg hilfreich sein. Wie genau?
Nehmen wir an, es ist Dienstag, 10 Uhr, und die Deutschlehrerin hat eine Videokonferenz über BigBlueButton für die Klasse 8c angesetzt. Von den 25 Schüler:innen nehmen 21 teil, 1 Schülerin ist krank, von 3 Schüler:innen gibt es keinerlei Entschuldigung oder Rückmeldung. Nun könnte sich die Lehrkraft innerlich maßlos über die Abwesenheit aufregen: „Die haben es wohl nicht nötig und denken, nur weil das eine Videokonferenz ist, müssen sie nicht dran teilnehmen. Wahrscheinlich schlafen die noch oder zocken oder es ist ihnen einfach egal. Dabei mache ich hier so viel! Am Ende muss ich denen wieder hinterherrennen. Das ist mal wieder typisch, gerade für Luisa …!“ Verärgert und frustriert hält die Lehrperson nun ihre Videokonferenz ab und schreibt anschließend eine wütende Mail an die Schüler:innen. Irgendwie fühlt sie sich auch hilflos und allein mit diesem Problem. Was kann ihr nun die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) bringen?
Der GFK liegt ein humanistisches Menschenbild zugrunde, in dem davon ausgegangen wird, dass alle Handlungen, die ein Mensch vollzieht, der Erfüllung von Bedürfnissen dienen. Ein Bedürfnis ist positiv, universell und unabhängig von Ort, Zeit und Handlung. Darunter fallen z. B. Wertschätzung, Eingebundensein, Respekt, Wachstum, Leichtigkeit oder auch Ruhe. Gefühle sind die Warnleuchten und zeigen mir, ob ein Bedürfnis erfüllt oder unerfüllt ist. Um sich ein Bedürfnis zu erfüllen, gibt es unzählige Strategien, die ich variieren kann. Konflikte entstehen nun auf der Ebene der Handlungen bzw. Strategien, mit denen ich mir ein Bedürfnis zu erfüllen suche und nicht auf der Ebene der Bedürfnisse selbst. M. Rosenberg hat 4 Schritte entwickelt, die als Orientierungs- und Formulierungshilfe auch der Deutschlehrerin im Beispiel dienen. Sie könnte sich mit Hilfe der 4 Schritte den Lernenden mitteilen, sie könnte sich in einem Gespräch empathisch mit den Lernenden austauschen oder sich erstmal selbstempathisch ihrer eigenen Wut und Hilflosigkeit widmen. Ist sie wütend, weil ihr Respekt oder Klarheit fehlen? Bräuchte sie Unterstützung und Wertschätzung für ihre Arbeit? Mit Hilfe welcher Strategien erfüllt sie sich diese Bedürfnisse noch im Alltag? Mitunter kann schon ein achtsames In-Sich-Hineinhören reichen, um aus der Ärgerspirale herauszukommen. In dem Moment, in dem ich weiß, welches Bedürfnis gerade unerfüllt ist, kann ich wieder selbstwirksam nach möglichen konkreten Strategien suchen, um es mir zu erfüllen.
Ein weiteres Beispiel wäre folgendes: Matheunterricht im Wechselmodell in Gruppe B der Klasse 7c − aufgrund der Hygienebestimmungen arbeiten die Lernenden hauptsächlich in Stillarbeit oder im Plenum an Aufgaben im Mathebuch und im Übungsheft. Nachdem die Lehrperson gerade eine Beispielaufgabe an der Tafel gerechnet hat, beginnen die Schüler:innen zu rechnen. Während ihres Rundganges stellt die Lehrperson überrascht fest, dass Laurin nicht arbeitet, sondern in seinem Matheheft malt. Verärgert weist sie ihn zurecht und fordert den Arbeitsbeginn ein, doch Laurin merkt an, dass er sein Mathebuch zu Hause vergessen habe. „Das kann doch nicht wahr sein, dass du ständig unvorbereitet kommst! So geht das nicht weiter!“
Wer von Ihnen, liebe Pädagog:innen, denkt nun nicht auch sofort an eigene Schüler:innen und hat diese Situation schon mehrfach erlebt? Wie kann gerade unter den derzeitigen Einschränkungen sinnvoll gearbeitet werden, wenn die Lernenden dann auch noch ihre Materialien vergessen? Schließlich drängt die Zeit, dass wieder gemeinsam gelernt wird. Was kann nun die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) in so einer Situation nützen?
Im ersten Schritt des Ansatzes geht es zunächst einmal darum, so sachlich wie möglich zu schauen, was passiert ist. Was sind die Zahlen, Daten, Fakten (ZDF) in dieser Situation? Was würde durch eine Kamera hindurch als Bild – und Tonsequenz aufgenommen werden? An welchen Tagen hat Laurin was wie oft konkret nicht dabeigehabt?
Wichtig ist dabei, vor allem zu versuchen, Bewertungen (gut, zu oberflächlich), Verallgemeinerungen (ständig, immer, nur), Urteile (Faulpelz), Vergleiche oder Interpretationen (unzuverlässig) von der möglichst nüchternen Beobachtung zu trennen. Hier könnte berechtigterweise angemerkt werden, dass auch eine Kamera nur einen Ausschnitt wahrnimmt und dass es keine objektive Wahrheit gibt. Aber allein der Versuch, sich klarzumachen, was tatsächlich war, kann helfen, einen sich anbahnenden Konflikt etwas zu entspannen.
Je nachdem, wie sehr es mich verärgert, kann es im Sinne der Selbstempathie hilfreich sein, sich über das Triggerpotenzial bewusst zu werden. Genauso hilfreich kann es sein, die eigene Beobachtung mitzuteilen, statt bereits im verärgerten Vorwurfsmodus zu sprechen. „Du hast in den letzten drei Mathestunden kein Mathebuch dabeigehabt.“ Diese Beobachtung ist auf der Grundlage einer respektvollen Grundhaltung eine viel größere Gesprächseinladung an mein Gegenüber als ein auf Verallgemeinerung beruhender Vorwurf. Dann kann ich entweder den Lernenden einladen, seine Sicht zu schildern oder aber meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse mitteilen. „Ich bin irritiert und möchte gern verstehen, woran es liegt. Kannst du mir sagen, was dir helfen kann, dein Mathebuch mitzubringen? Oder auch: „Ich bin in Sorge, weil mir wichtig ist, dass jeder die Zeit hier als Lernzeit nutzen kann. Kannst du mir sagen, was jetzt bei dir angekommen ist?“
Diese Gesprächseinladung funktioniert jedoch nur dann, wenn ich nicht gerade innerlich koche und mich erstmal selbst beruhigen muss. Dann kann es hilfreich sein, am Ende der Stunde ins Gespräch zu gehen.